Erinnerungen an die Flucht aus Pommern

Erinnerungen an die Flucht aus Pommern von Else Jasmer geb. Mietz

Schlochau im Herbst 1944, der Krieg beherrscht unsere Gedanken. Wir spüren das Kriegsgeschehen hautnah, die Front ist nicht mehr weit von unserem Dorf entfernt und täglich rückt die russische Armee näher an die deutsche Ostgrenze. Schlochau, mein Heimatort, ist plötzlich von Flüchtlingstrecks aus Litauen und Ostpreußen überlaufen. Die Flüchtenden werden kurzzeitig in unserem Ort und auch in angrenzenden Dörfern untergebracht. Infolge dieser dramatischen Situation, die das Leben bei uns schlagartig verändert, bereiten auch wir uns gedanklich auf unsere eigene Flucht vor. Die Hoffnung, die Heimat nicht verlassen zu müssen, ist dahin; der Krieg hat seine eigenen Gesetze und wir müssen darauf entsprechend reagieren.

Die Nähe der Kriegsfront wird immer spürbarer, das Donnern der Geschütze ist deutlich zu hören. Schließlich, im November 1944, ist es so weit. Unser Gespann mit zwei Pferden steht bereit. Bepackt mit allem Notwendigen, insbesondere mit Lebensmitteln, warmer Kleidung und Pferdefutter, bildet es die Grundlage für den weiten Weg nach Westen.

Dann endlich, am 27. Januar 1945, ergeht die Anordnung des Bürgermeisters zum Aufbruch. Es ist 2 Uhr morgens, die Umgebung des Dorfes wirkt unnatürlich gespenstisch. Das Vieh in den Ställen wird losgebunden und Futter für die nächsten Tage wird ausgestreut. Irgendwie scheinen die Tiere etwas zu ahnen. Die Kirchenglocken der alten Dorfkirche läuten für uns ein letztes Mal - der Weg ins Ungewisse beginnt. Mit Tränen in den Augen verlassen die übrigen Dorfbewohner und wir für immer unseren Heimatort. Die eisige Kälte von -21 Grad schneidet ins Gesicht, der Schnee liegt meterhoch. Die Pferde leisten bei diesen Wetterbedingungen außergewöhnliches. Am ersten Tag legen wir eine Wegstrecke von 20 km zurück. Das Donnern der Geschütze begleitet uns ständig. Tage und Wochen führt unser Weg quer durch Pommern - immer Richtung Westen. Wir übernachten in Scheunen, Kuh- und Schafställen. Die Häuser der Ortschaften, an denen wir vorbeiziehen, sind bereits mit Flüchtlingen belegt. In der eisigen Kälte sterben unterwegs viele Menschen, besonders kleine Kinder und ältere Leute. Sie werden an den Straßenrand gelegt - Beerdigungen sind nicht möglich. Der Wille zum Überleben ist so stark, daß ein Verweilen nicht in Frage kommt. Hin und wieder greifen uns Tiefflieger an, aber wir haben Glück. Schließlich erreichen wir die Oderbrücke, und uns wird bewußt, daß wir das Schlimmste überstanden haben, wir leben. Am Abend treffen sich alle zum Gebet auf einer Waldlichtung.

Auf dem anschließenden Weg durch Vorpommern- und Mecklenburg gelangen wir in die Kleinstadt Grimmen. Ein Ortsgruppenleiter erteilt uns hier die Anweisung, nach Schleswig-Holstein weiterzufahren. Sechs Familien unseres Dorfes erreichen nach Monaten dieses Ziel.

Meine Eltern Karl und Emma Mietz, mein Sohn Hans und ich, Else Jasmer (zu der Zeit 22 Jahre alt), kommen schließlich nach Nortorf. Dort erteilt man uns die Anweisung, nach Rickert bei Rendsburg weiterzufahren. Auf dem Wege dorthin treffen wir die Familien Laabs und Miller, die das gleiche Ziel haben.

Am 4. April 1945 erreichen wir Rickert und werden in der Gastwirtschaft Peters aufgenommen. Frau Peters kümmert sich fürsorglich um uns. Wir empfinden große Dankbarkeit. Schließlich, nach längerem Warten, weist uns der Bürgermeister Hans Sievers eine Unterkunft bei seinem Sohn, dem Bauern Hans Sievers (am Wasserwerk), zu. Die Bäuerin, Frau Elfriede Sievers, leitet den Hof alleine, da ihr Ehemann im Krieg ist. Wir sind nicht die einzigen Flüchtlinge auf dem Bauernhof Sievers, so bleiben Probleme in dem engen Zusammenleben nicht aus. Auch die werden bewältigt - und wir haben eine neue Heimat gefunden. Die herzliche Verbindung zur Familie Sievers dauert bis heute an und wir denken voller Dankbarkeit an die damalige Gastfreundschaft zurück.



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